Erinnerungen von Erna Kettwig, geb. Knamm

Beim vorliegenden Text handelt es sich um Ernas eigenhändigen Aufzeichnungen. Ich weiß nicht, wann sie gemacht wurden. Dieser Text ist gegenüber dem Original leicht verändert.

Amsee

Amsee liegt nahe der russisch-polnischen Grenze und an der Hauptstrecke Posen, Gnesen, Hohensalza, Bromberg, Thorn, Gsaudenz, Königsberg. Es lag von Hohensalza ca. 2 Fußstunden entfernt und war an einem See gelegen. Vor dem See lagen noch andere Seen, der Goplower See und der Zolonger See. Aus diesen Seen bildete sich dann die Netze, die in die Warthe mündet. Amsee war zweigeteilt. Ein Teil lag rechts der Bahnlinie, die Zuckerfabrik mit Wohnungen für die dort arbeitenden Leute. Zum anderen Teil, links der Bahnlinie, waren der Bahnhof, Schule, Kirche (die mit Hilfe durch den Gustav-Adolf Verein gebaut und 1912 eingeweiht wurde), Molkerei, Post, Gasthaus und etwas weiter entfernt eine Mühle. Auch eine Bäckerei und Fleischerei waren da. Dann Wohnungen für die Beschäftigten.

Amsee lag in einem sehr fruchtbaren Gebiet, Kujavien genannt. Die Zuckerfabrik selbst hieß auch so. Riesige Weizenfelder, Rübenfelder, aber auch andere Getreidesorten und Kartoffeln konnte man sehen. Es gab zwei große Rittergüter, Groß Kolunda, Klein Kolunda und kleinere. Auf den großen Rittergütern saßen polnische Adelige. Da wurde nur geritten und mit der Kutsche gefahren. Die Töchter waren in ausländischen Internaten untergebracht. Auf den Gütern gab es die sogenannten Fusthäuser. Das waren alles Polen, die in der Landwirtschaft auf dem Gut beschäftigt waren. Es sah alles ärmlich aus.

Auf dem Wasserweg, Eisenbahn, Feldloren und Pferdefuhrwerken wurden im Herbst die Rüben angeliefert. So war dann ein sehr geschäftiges Treiben. Ende Oktober fing die Zuckerrüben Kampagne an. Das ging Tag und Nacht bis kurz vor Weihnachten. Weihnachten bis Neujahr war Pause, dann ging es vermindert bis Februar, März. Nicht nur Rüben wurden angeliefert, sondern auch große Halden Steinkohlen. Vom Bahnhof lief ein Gleis bis zur Fabrik, so kamen die gefüllten Waggons, von der eigenen Fabrik-Lokomotive geholt, bis aufs Fabrikgelände. Es war schon interessant zu sehn, wie diese Berge Rüben sauber gewaschen auf Bänder anrollten. Das schmutzige Wasser lief in großen Gräben schäumend in den See. Dass das Fabrikgelände taghell erleuchtet wurde ist selbstverständlich. Wenn das erste Mal alles hell erleuchtet wurde, war es für alle Kinder ein Festtag. Wir durften länger aufbleiben und schrien, gröhlten und spielten im Schein der Lampen Ringelreihen.

Zum Zucker weiß machen wurde auch ungelöschter Kalk gebraucht. Wenn wir Kinder an dem Raum vorbeikamen und kein Mann da war, stibitzten wir schnell ein paar Klumpen und warfen sie ins Wasser. Dann fing es an zu kochen und zu spritzen und wir mussten aufpassen ,dass wir nichts abkriegten, denn dann hatten wir Brandblasen. Gern sind wir auf die hinterste Lore aufgestiegen um ein Stück zu fahren. Einmal wurde ein Schulkamerad dabei von dem Lehrer gesehen, da gab es den andern Tag in der Schule etwas mit der Rute. Die Lokomotive stieß die Waggons oft ab, die dann weiterrollten. Da hing sich doch einmal so ein 5-6 jähriger Knirps an einen Waggon. Glücklicherweise sah das ein Mann, der hinterherlief. Der bekam dann gleich seine Tracht Prügel.

Im Sommer hüteten wir nahe am See die Ziegen. Da hatten sie saftiges Futter. Wir badeten wohl auch im See, aber nicht an dieser Stelle. Bei stürmischem Wetter habe ich eigentlich den See nicht gesehen. Es soll da ganz schöne Wellen gegeben haben. Nahe der Eisenbahnbrücke war so etwas wie eine kleine Halbinsel. Darauf baute sich ein Ruderclub ein Haus. Leute aus Hohensalza, die am Wochenende dort segelten und badeten. Einmal waren die jungen Leute auch beim Segeln. Da kam plötzlich ein Sturm mit Gewitter auf. Die jungen Mädchen schrien und brachten dadurch das Boot noch schneller zum kentern. Sie wurden aber alle gerettet, bis auf einen Matrosen, der auf Heimaturlaub war. Er wollte auch retten und blieb in den Segelschnüren hängen und konnte sich nicht befreien.

Im Winter liefen wir Schlittschuh oder fuhren einen Abhang mit dem Schlitten runter. Onkel Kurt brach einmal ein. Pitschenass lief er nicht nach Hause, sondern zu einer alten Witwe, einer guten Bekannten von Mutter, die steckte ihn ins Bett und trocknete seine Sachen.

Von ihr, der Mutter Schmidt, muss ich noch etwas besonderes schreiben. Sie wurde krank und lag am Sterben. Mutter besuchte sie und dann benachrichtigte sie den einzigen Sohn, dass er komme. Dieser hielt dann auch einmal Nachtwache. Am Morgen kam er ganz aufgelöst zu uns. Tante Elfriede war noch nicht geboren und ich wohl so zwischen 3-5 Jahre. Ich hörte ihn flüstern, verstand aber nichts. Von Tante Martha hörte ich später, was der Sohn erlebte in jener Nacht. Mitten in der Nacht ging die Tür auf und eine weiße Gestalt ging auf das Bett zu und berührte die Frau, dann verschwand sie. Die Mutter tat da ihren letzten Atemzug.

Der 1. Weltkrieg

Wie ich schon erwähnte, waren um uns herum riesige Felder. Dadurch haben wir den [ersten] Weltkrieg auch gut überstanden. Was unsere Eltern für Sorgen hatten, weiß ich ja nicht. Mutter und wir Kinder haben fleißig Ähren gelesen. Von denen lag genug auf den abgeernteten Feldern. Es gab wohl schon Mähmaschinen, aber alle andere Arbeit musste mit den Händen gemacht werden. Das Aufstellen der Garben, das Aufladen und Abladen in Scheune oder große Schober gleich auf den Feldern. Im Herbst wurden dann Kartoffeln “gestoppelt” von denen noch genug in der Erde blieben. Heute gibt es Mähdrescher, da geht keine Ähre mehr verloren. Als der Hunger in den Städten größer wurde, kamen auch Leute aus Hohensalza zum Lesen. Und als der Winter 1917/18 kam, der sogenannte Kohlrübenwinter – nur Kohlrüben, Suppe, Gemüse, Salat, Kaffee ohne Fett natürlich, und dann noch dazu eine schwere Grippewelle, da starben die Leute in den Städten wie die Fliegen. Dass in Amsee jemand starb, wüsste ich nicht. Wir hatten außer zwei Ziegen noch Kaninchen, Hühner und ein oder zwei Schweine. Dafür das Futter ranschaffen war natürlich mit Plackerei verbunden.

Wie groß überall der Hunger war, geht auch daraus hervor, dass Männer von Haus zu Haus gingen und nach Lebensmitteln suchten. Auch von uns nahmen sie einen Beutel Mehl mit – wieviel darin war weiß ich nicht. Die Nachbarin war schlauer. Die hing ihren Vorrat im Sack übern Zaun im Garten! Aber wir hatten auch keinen Garten in der Nähe. Es war durchgesickert, dass so etwas im Gange war, aber meine Mutter dachte wohl, dass bisschen können sie doch nicht wegnehmen.

Im Sommer, wenn die Ferienzeit kam, gingen wir mit Eimer, Kannen und Körben in den Wald zum Heidelbeer pflücken. Heute frage ich mich, was meine Mutter wohl mit den vielen Beeren gemacht hat. Auf dem Heimweg, gegen Abend, wenn wir am See entlang gingen, sangen wir oft “Still ruht der See, die Vöglein schlafen” oder “Gold’ne Abendsonne, wie bist du so schön” und viele andere Lieder.

Bei Sonnenaufgang ging es morgens los. Eineinhalb bis zwei Stunden dauerte es bis wir in den Wald kamen. Ich war wohl schon so an 10 Jahre ehe ich das erste Mal den großen Wald sah. Es gab wohl kleinere Gehölze, aber keinen großen Wald. Eine halbe bis dreiviertel Stunde entfernt lag eine deutsche Siedlung (Schellstein). Woher die Siedler kamen, weiß ich nicht. Die Kinder redeten ihre Eltern mit Sie an.

Als im Krieg alle Männer fort waren, hatten die Frauen, alten Männer und Kinder die Arbeit zu machen. Wer nun nicht genug Hilfe hatte, ging zu unserem Lehrer um Kinder zum Rüben verziehen zu bekommen. Da war ich auch dabei. Das ging von morgens bis abends, oder auch nachmittags. Für den Tag bekamen wir 50 Pfennig. Nach dem Stecken der Rüben blieben Büschel mit 4,5,7 Pflänzchen stehen. Da mussten die schwächsten Pflanzen ausgezogen werden – nur die kräftigste blieb stehen. Abends waren wir dann rechtschaffen müde, wenn man sich den ganzen Tag gebückt hat. Am nächsten Tag ging es weiter.

In Amsee lebten überwiegend Deutsche. Auf den Gütern nur Polen. Die Polen waren katholisch, die Deutschen evangelisch. Nur eine Familie war deutsch-katholisch und ich wusste als Kind nicht damit anzufangen. Als nach dem verlorenen Krieg Posen polnisch wurde, da erfuhr ich, war deutsch-katholisch heißt. Die Familie hatte zwei Kinder, ein Mariechen und einen Heini. Als nun alles polnisch wurde, hießen die Kinder Minja und Henry und mussten auf einmal polnisch sprechen, was sie gar nicht konnten. Die Eltern konnten es. Auch mein Vater konnte es fließend, meine Mutter etwas. Als ich dann später im Westen landete, habe ich lange gebraucht – und Vati musste es mir immer wieder sagen, dass Katholiken auch Deutsche sind – mich daran zu gewöhnen, so war das in mir drin: katholisch ist gleich polnisch.

Nun komme ich auf den Anfang des Krieges zurück. Wie schon erwähnt, wohnten wir nahe der Grenze. Meine Mutter nähte für jedes Kind einen Rucksack. Mich führte sie mal in den Keller und zeigte auf einen Kartoffelhaufen. Darunter hatte sie etwas versteckt – was, weiß ich nicht, ich sollte es nur wissen. Wir sind vor dem Einbruch verschont worden, dafür kamen die Russen nach Ostpreußen. Bei Tannenberg fand eine große Schlacht statt. Generalfeldmarschall von Hindenburg trieb die Russen zurück. Hindenburg wurde nun von Groß und Klein als Retter verehrt – das war ganz natürlich.

In der Schule haben die größeren Mädchen Strümpfe, Pulswärmer und Kopfschützer für die Soldaten gestrickt. Die Wolle dafür lieferte das Rote Kreuz. Da habe ich aber Übung im Stricken bekommen! Onkel Willy war gerade 18 Jahre alt geworden und er meldete sich freiwillig. Was sind da für Züge mit Soldaten nach Osten gerollt! Erst in Personenwagen, dann in Viehwagen. Wir Kinder standen dann auf dem Bahndamm und versuchten Äpfel zuzuwerfen. Die meisten fielen auf die Geleise. Das war aber nur am Anfang. Tag und Nacht rollten die Züge.

Von Tante Lotti weiß ich, dass sie in Hohensalza das Nähen lernte und als sie dann nach Hause kam, arbeiteten sie und ihre Schulkameraden an der Bahn. Erst beim Streckenbau, dann als Schrankenwärter. Die Schranken wurden noch alle mit der Hand runtergelassen. Es gab da auch Nachtdienst. Ich hörte dann, wie sich die Mädchen unterhielten, was sie manchmal für Angst hatten, wenn sie in dunkler Nacht draußen mit der Laterne stehen und anschließend die Schranke wieder hochkurbeln mussten. Tante Marta lernte Putzmacherin und wurde dann Schwester im Kinderkrankenhaus in Stettin. Onkel Kurt kam nach Hohensalza in die Bäckerlehre, nachdem er wegen Farbenblindheit bei der Bahn nicht ankam – und das war doch sein größter Wunsch.

Raus aus Posen

Der Krieg ging zu Ende und die Provinz Posen kam zu Polen. Amsee hieß Janikowo, Hohensalza – Inowrazlaw, Posen – Poznan. Das konnte man ja aussprechen, aber sonst das Polnische!? Zungenbrecher. 1919 kam eine Abstimmung. Wer für Deutschland stimmte, musste das Land verlassen. Darüber gab es eine Optionsurkunde. Das Abstimmen hieß optieren. Bis auf einen alten Mann verließen alle Amsee.

Im Sommer 1921 wurden wir erst ins Lager Lechfeld (Bayern) gebracht, dann nach 14 Tagen nach Hameln in ein ehemaliges Gefangenenlager. Da kamen wir in große Baraken – alle durcheinander: Männer, Frauen, Kinder. Mit der Zeit schützte sich jede Familie mit Decken vor Sicht. Essen bekamen wir aus Gulaschkanonen. Es schmeckte uns gut, aber nur in der ersten Zeit. Dann hatten wir es so über, dass viel in die Schweinetonnen kam. Es wurde dann durchgesetzt, dass jeder die Lebensmittel so bekam und jeder konnte selbst kochen. Im Lager blieben wir von Juli 1921 bis April 1924. Viele haben sich in der Zwischenzeit eine Arbeitsstelle gesucht. In Hameln besuchte ich die Handelsschule und war anschließend in einer Papiergroßhandlung tätig. Mein Vater war August 1922, 73-jährig gestorben.

Die Familien wurden nach und nach in Gemeinden untergebracht. Wir kamen nach Großenbehringen in Thüringen. Dort bekamen wir bei einem Bauern zwei Zimmer zugewiesen. Später kam noch eine Küche dazu. Durch Vermittlung von Onkel Fritz bekam ich bald eine Stelle in der Saatzuchtwirtschaft Meyer in Friedrichswerth. Dort lernte ich Vati kennen, der im Februar oder März bei der Firma landete.

Auf dem Dorf gab es nichts zu kaufen und als meine Mutter Kirschen haben wollte, hieß es, sie müsste dazu nach Gotha fahren. Aber es gibt die Möglichkeit, von der Gemeinde einen Baum zu kaufen. So wurde es auch gemacht. Als meine Mutter auf der Leiter stand, Tante Elfriede über ihr und sie pflückte die unteren Zweige, da brach die Leiter und meine Mutter hatte einen offenen Beinbruch. Ich war bei einem anderen Baum. Ich lief zum Arzt, dann zu unserem Hauswirt, der Mutter auf dem Leiterwagen nach Hause holte. Der Arzt kam auch, gab aber keine Spritze gegen Tetanus und schickte sie erst nach ein paar Tagen ins Krankenhaus. Aber da war es zu spät. Im August 1924 starb sie an Wundstarrkrampf.

Tante Elfriede kam zu Tante Frieda nach Debisfelde bis zu ihrer Konfirmation. Ich blieb allein in Behringen. Als Vormund bekamen wir Onkel Fritz. Noch als wir in Hameln ware, fing die Inflation an. Unsere Chefs gaben uns Geld, wie sie es auch bekamen und wir durften oft auch früher weg um das Geld umzusetzen. Wenn heute die Butter zum Beispiel 10 Mark kostet, musste man den anderen Tag schon 12 oder noch mehr bezahlen. Zuletzt bekamen wir Billionen in die Hand gedrückt – nur man bekam nichts dafür. Endlich ging auch diese Zeit vorbei.

1926 heirateten Vati und ich. Die Zeit wurde immer schwerer. Immer mehr Menschen wurden arbeitslos, immer mehr Fabriken standen still, immer mehr Firmen gingen pleite. Bei der Firma wurden auch Entlassungen vorgenommen, aber Vati blieb.

Vorfahren

Es stellte sich heraus, dass unsere Vorfahren aus Württemberg, um Freudenstadt herum, herkamen. Aber wieso sind sie im Osten gelandet? Aus welchem Grund? Wem gehörte das Land früher? Jetzt habe ich etwas genaueres erfahren. Es gehörte früher zum Königreich Polen. 1772 teilten sich Preussen, Österreich und Russland dieses Land. Das war die erste Teilung. Die zweite Teilung erfolgte 1793 durch Preussen und Russland. Die dritte Teilung erfolgte durch Österreich, Preussen und Russland 1795. Wahrscheinlich sind nach der 2. Teilung durch Friedrich den Großen Siedler ins Land geholt worden. Die Provinz Posen existierte also ca. von 1793 bis 1919 (126 Jahre).

Klein Morin, wo meine Großeltern wohnten, war ein Bauerndorf. Ich kann mir denken, dass die dort angesiedelt waren. Amsee dagegen ist erst später entstanden. Wie ich schon sagte, waren drumherum alles polnische Güter – bis auf Ausnahmen. Da waren nur Polen drauf und die werden auch schon früher dagewesen sein. In der Nähe war die Siedlung Schellstein, wo lauter deutsche Bauern wohnten.

Wie mein Vater erzählte – er hat es wieder von seinen Eltern und Großeltern – streckten sich große Wälder bis nach Russland hinein. Und wenn strenge Winter waren, kamen die Wölfe bis zu den Siedlern. Der Schnee lag da so hoch, dass die niedrigen Fenster fast zu waren und die Wölfe ins Haus schauten. Einmal konnte sich ein Wolf Zugang zum Schweinestall verschaffen, in dem eine Sau mit Ferkeln war. Die Sau hat den Wolf so fertig gemacht, dass er abzog. Aber tagelang durfte sich niemand in die Nähe der Sau wagen, so rasend war sie.

Das war nun ein Sprung in die Vergangenheit.